Vertreter der jüdischen Gemeinschaft diskutiert mit BG-Schülern Relevanz historischer Ereignisse
Von Oberstudienrat Richard Guth
„Dass wir nach der Shoa wieder eine jüdische Gemeinschaft haben, grenzt an ein Wunder. Die heutige jüdische Gemeinschaft besteht zu einem großen Teil aus so genannten Kontingentflüchtlingen aus den GUS-Staaten, die hier nach der Wende ein freies Leben führen wollten. Und obgleich nicht alle Familien nach den religiösen Vorschriften leben und auch im Judentum eine Säkularisierung stattfindet, sind und bleiben wir eine gemeinsame Schicksalsgemeinschaft”, erzählte Oliver Dainow, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau. Seine Familie selbst ist mit den Juden aus der ehemaligen Sowjetunion und Polen verbunden, kam sein Großvater mütterlicherseits, als Holocaust-Überlebender, über Frankreich in die Bundesrepublik. Die Mitglieder der Erlebnisgeneration seien stets auf gepackten Koffern gesessen, während man in der Generation der Mutter nur noch von einem Rucksack habe sprechen wollen. In Dainows Generation habe man hingegen verwundert gefragt: „Welcher Koffer? Wo sollen wir hin?” – als Zeichen einer gelungenen Integration. Leider spreche die vierte Generation erneut vom Kofferpacken, sagte Dainow, und deutete auf die Herausforderungen durch den erstarkten Antisemitismus hin, der nie verschwunden sei und mit dessen Folgen (bis hin zu Übergriffen auf Menschen und Einrichtungen) viele Juden in Europa kämpften. Besondere Bedeutung verleihe die Erkenntnis, dass „Judenhass nie bei den Juden” ende.
Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 80 Jahren und der damit verbundene Holocaust-Gedenktag lieferten den Anlass für ein Gespräch von Schülerinnen und Schülern des Beruflichen Gymnasiums der Kinzig-Schule (aus der Jahrgangsstufe 13) mit dem Vertreter von ca. 10.000 in Hessen lebenden Jüdinnen und Juden. Oft fehle es, laut Dainow, an der Sensibilisierung für die Nöte der hier lebenden Juden aufgrund der fehlenden Begegnungen mit den jüdischen Lebensrealitäten in Deutschland.
Dem von der Geschichtsfachschaft organisierten Vortrag und Gespräch vorangegangen ist die Vorstellung zweier Hausarbeiten, die besondere Facetten der Geschichte des Nationalsozialismus beleuchteten. Lukas Linster beschäftigte sich mit dem Spannungsfeld Nationalsozialismus und Fußball und kam zur Erkenntnis, dass der Massensport dem Regime wenig entgegengesetzt und die Ausgrenzung der Juden willfährig unterstützt habe. Der Schüler gab der Hausarbeit eine regionale Note, indem er auch die Entwicklung bei Eintracht Frankfurt untersuchte. Magdalena Schwarz stellte die tschechisch-jüdische Künstlerin Dinah Babbitt (geb. Gottliebová) vor, die durch ihre Kunst das Leben der Mutter und ihr eigenes rettete. Lagerarzt Mengele zwang sie als Funktionshäftling detailgenaue Bilder von den Häftlingen zu zeichnen – sie malte um ihr Leben.
Einen Gegenwartsbezug erhielt die Veranstaltung durch das anschließende Gespräch von Oliver Dainow mit dem Abiturjahrgang: Es drehte sich dabei um die Bedeutung des Holocaust für die jungen Generationen, die Einordnung des Nahostkonflikts vor dem Hintergrund eines israelbezogenen Antisemitismus und die Rolle der sozialen Medien, gerade in Zeiten des Bundestagswahlkampfes.
Insbesondere der Holocaust und das Vermächtnis der Überlebenden lehrten uns, dass man mit „Empathie und Solidarität” fernab jeglicher politischer Überzeugung die Probleme überwinden könne, so Oliver Dainow. Damit das zarte Pflänzchen jüdischen Lebens und Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden nicht abstirbt.