Vier Zeitzeugen aus Schlüchtern berichten über ihre Vertreibungsgeschichte
Von Oberstudienrat Richard Guth
(9. November 2023) „Mein Großvater war Lehrer und kam ursprünglich aus Lemberg/L’viv und wurde in die Nähe von Karlsbad/Karlovy Vary versetzt. Anfang 1946 begann die Vertreibung, ich war damals drei Jahre alt. Es wurde gewütet, jeden Tag geschossen, so dass ich bis heute wahnsinnige Angst bei Donner und Gewitter habe. Wir durften 50 kg mitnehmen und mussten zu Fuß über die Grenze in die Sowjetisch Besetzte Zone. Da mein Vater kein Parteimitglied sein wollte, kamen wir nach Hessen und durften auch bleiben, weil wir Tschechisch als Staatsangehörigkeit angegeben haben. Auf Antrag kamen wir nach Mottgers und wurden im ehemaligen Gefangenenlager untergebracht. Auch wenn der Anfang schwer war, gelang die Integration binnen 5-6 Jahren, dabei waren unsere Deutsch-Sprachkenntnisse entscheidend”, erinnert sich Gudrun Heberling an die Vertreibung der Familie aus dem Sudetenland. Mit ihrem Mann Johann Heberling teilt sie ein ähnliches Schicksal: Die Familie des ehemaligen Bürgermeisters von Sinntal musste ihr 1200-Seelen-Dorf Ratznona/Alsónána in Südungarn verlassen. Noch heute erinnert sich der 81-Jährige an den beschwerlichen Weg in den Viehwaggons, die in Sinntal Halt machten, um die Hälfte der vertriebenen Ratznoner „abzuladen”.
Am deutschen „Schicksalstag“ 9. November waren vier Mitglieder der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) zu Gast in der Kinzig-Schule und sprachen vor Schülerinnen und Schüler des Abiturjahrgangs des Beruflichen Gymnasiums über ihre Erlebnisse im Zuge von Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg – auch das ist Teil der deutschen Geschichte und des Geschichtsunterrichts. Auf eine kurze Darstellung der Geschichte der Sudetendeutschen durch SL-Kreisobmann Roland Dworschak folgten die ausführlichen Zeitzeugenberichte: Neben dem Ehepaar Heberling erzählten der Hintersteinauer Gernot Strunz (Jg. 1945) und der ehemalige Wallrother Ortsvorsteher Roland Dworschak (Jg. 1941) über den Verlust der Heimat und das Heimischwerden in Osthessen. Dabei beschrieben sie eindrücklich die Herausforderungen bei der „gar nicht so unproblematischen” Integration, von der Unterbringung in Turnhallen und bei alteingesessenen Bauern, über die Hänseleien in der Schule bis hin zum Bau eines Eigenheims, der gerne mal zehn Jahre in Anspruch nahm. Die Zeitzeugen nahmen dabei auch Bezug auf das heutige Migrationsgeschehen: Johann Hebeling sprach von „einem dreifachen Maß an Zuwanderung” (die Heimatvertriebenen stellten Ende der 1940er Jahre in Hintersteinau beispielsweise die Hälfte der konfessionell nun gemischten Bevölkerung) und „Einquartierung auf Anordnung”.
Der Lebensweg der vier Zeitzeugen zeigt dabei eines: Man kann durch den Willen zur Integration und Sprachkenntnisse auch fern der Heimat ein neues Zuhause finden, was auch zu helfen vermag, erlittenes Unrecht zu verarbeiten.